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Ein Beitrag von Simone Saftig

Liebevoller Lärm

Krankheitsgeschichten spielen in der Literatur schon immer eine große Rolle und repräsentieren für ihre jeweilige Epoche gesellschaftliche Vorstellungen und Vorurteile über bestimmte Krankheitsbilder. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lässt sich eine Tendenz zur poetischen Auseinandersetzung insbesondere mit psychischen Krankheiten erkennen. So gibt es erfreulicher- und notwendigerweise mittlerweile bereits eine reiche Auswahl an Literatur, die sich etwa mit dem Thema Depressionen auseinandersetzt.

Weniger häufig scheint die Erkrankung ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) im Mittelpunkt zu stehen, dabei sind allein in Deutschland etwa 500.000 Kinder und Jugendliche davon betroffen – und zwar viele ohne es zu wissen. Denn das Krankheitsbild ist sehr individuell und die Symptome bisweilen vielschichtig.
Umso relevanter ist Evan Placeys Jugendstück „WiLd!“, in dem sich der kanadisch-britische Autor dem Krankheitsbild widmet und es für ein junges Publikum dramatisiert. Doch nicht nur junge Menschen sollten sich die Inszenierung von Regisseur Milan Gather ansehen, die aktuell im Kinder- und Jugendtheater Dortmund aufgeführt wird.

 

 

Eine kontrastreiche Symbiose

Ganz intim, im kleinen Saal des KJT Dortmund, drängeln sich an diesem Vormittag hauptsächlich erwachsene Zuschauer:innen aneinander. Die Aufführung beginnt mit einem stinklangweiligen Referat von Rüdiger von Bürstendorf (Thomas Mann wäre neidisch auf diesen sprechenden Namen!) über sein Hobby, den Reitsport. Während Rüdigers Mund ein menschlich-monotones Dauerrauschen über Turnierpferde entfleucht, wird in der zweiten Reihe jemand unruhig, beschwert sich immer lauter werdend über den zähen Vortrag. Dieser jemand, so werden seine Sitznachbar:innen im Publikum gleich erfahren, heißt Billy und ist die Hauptfigur des Stücks. Schnell leiht er sich noch ein Zopfgummi, mit dem er Rüdiger von der Bildfläche fletschen kann, bevor er endlich – und mit denkbar vielen Hummeln im Hintern  – selbst die Bühne betritt.

Billy stellt sich vor: Er ist zehn Jahre alt und liebt Bienen. Sogleich entkleidet er das große Bühnenelement hinter ihm und zeigt uns seinen imaginären Bienenstock: Ein sechseckiges oranges Podest, an dessen Seiten jeweils bodenlose Metallregale angebracht sind und das als detailverliebter mit Kunstblumen bepflanzter Mikrokosmos ab jetzt diverse Kulisse bildet, gleichsam als Kinderzimmer wie Bienenstock fungiert. In der Mitte sitzt Rüdiger, das heißt nein, es ist Lukas Joachim am Schlagzeug. Der Musiker untermalt Billys Emotions- und Gedankenlandschaft fortan mal leise und mal ganz laut mit passenden Beats und fungiert überdies als extrem lässiger Anspielpartner für den dynamischen Billy – eine kontrastreiche Symbiose, die besonders gut funktioniert.

 

 

Schrei nach Liebe

Billy, gespielt von Thomas Ehrlichmann, nimmt uns mit in seinen Alltag, doch vor allem in sein Innerstes. Euphorisch erzählt er von seinem Vater und der gemeinsamen Liebe zu Bienen. Davon, wie er sich manchmal zu dessen Bienenstock schleicht und auf die Tiere Acht gibt. Erst nach und nach wird klar, was es damit auf sich hat: Nicht nur fungieren die wilden und rastlosen Bienen als Allegorie und Identifikation für den an ADHS erkrankten Jungen. Immer wimmelt es im Bienenstock, so wie auch in Billy, der sich einfach nicht konzentrieren kann und neugierig alles Mögliche ausprobieren will. Doch ist seine Zuneigung zu den Bienen überdies auch ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit des Vaters, der die Familie verlassen hat und zudem als Stimme aus dem Off betont: „Im Büro sagen alle, dass ADHS nur eine Erfindung ist.“
Eine überforderte Mutter, eine strenge Lehrerin, verständnislose Freund:innen  – all dies sind zwar literarische Figuren im Stück, die Reaktionen des Umfelds auf ADHS jedoch leider sehr realitätsnah. Gespielt werden die Figuren alle von Ehrlichmann, der es grandios versteht, jede auftretende Person mit nuancierter Mimik und Stimmfarbe zu karikieren. Insgesamt ist das Spiel des 33-jährigen Schauspielers raumfüllend. Er schafft es in kürzester Zeit eine wirbelnd-sympathische, kindliche Energie aufzubauen, die das Publikum mitreißt und vor allem mitfühlen lässt.

 

 

Jede Biene weiß, wo auf der Welt ihr Platz ist

Es bedarf nur eines kleinen Mikrokosmos und einer Menge Fantasie, um diesem metaphernreichen Monolog von Placey die Atmosphäre zu schenken, die er braucht und Ehrlichmann den Raum zu lassen, den er locker ausfüllen kann. Monologe so zu inszenieren, dass sie für Kinder nicht langatmig werden, ist eine Kunst für sich. Gather gelingt hier der Spagat zwischen Abstraktion und Entertainment spielend. Allein die musikalische Untermalung am Schlagzeug und bisweilen auch an der Gitarre (Ehrlichmann) dürften für kleine Zuschauer:innen für ein gutes Maß an Abwechslung sorgen. Doch auch erwachsenes Publikum erreicht die Inszenierung im Handumdrehen. Billy möchte verstanden werden. Sich selbst verstehen. So wie die Bienen: „Jede Biene weiß, wo ihr Platz auf der Welt ist“. In diesen leisen Momenten berührt das Stück sehr – so, wie Gather bereits in seinem mit dem Mülheimer Dramatikpreis prämierten Stück „Oma Monika – was war“ zu berühren wusste. Man möchte auf die Bühne steigen und Billy sagen: Du wirst gehört. Du wirst gesehen. Du wirst verstanden. Und genau das soll dieser liebevolle Aufschrei wohl bewirken.


WiLd!

Kinder- und Jugendtheater Dortmund

Ein Stück von Evan Placey
Deutsche Fassung aus dem Englischen von Frank Weigand

Informationen, Termine und Tickets gibt es hier.


Der Beitrag „Liebevoller Lärm“ ist von unserer RuhrBühnen-Bloggerin Simone Saftig verfasst worden. 

Mehr über den Blog, das Projekt und unsere RuhrBühnen-Blogger:innen gibt es hier.

 

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